Gratwanderung zwischen Empathie und Abgrenzung
Die Schicksale von Kindern mit einer schweren Mehrfachbehinderung sind berührend. Wie gehen professionelle Betreuungspersonen damit um? Dr. Thomas Schmitt-Mechelke, Leiter der Kinderneurologie am Kinderspital Luzern, hat grosse Erfahrung auf diesem Gebiet.
Dr. Schmitt-Mechelke, Sie sind in Ihrem beruflichen Alltag oft mit schwierigen Schicksalen konfrontiert. Was ist für Sie als Spezialist besonders herausfordernd, wenn Sie mit Kindern mit schwerer Behinderung zu tun haben? Für mich persönlich ist es anspruchsvoll, das Mittelmass zu finden zwischen Abgrenzung und Engagement. Sehr viele Fälle tragen häufig eine ganz besondere Erkrankungsschwere in sich. Da ist die Dimension einer lebenslangen Schwerbehinderung für das Kind, und da ist die Palette von leidensmindernden Massnahmen, die wir so gut als möglich anbieten. Das ist herausfordernd. Es braucht eine gute Balance, um jedem Fall gerecht werden zu können. Einerseits gilt es, sich mit allen Mitteln für den Einzelfall zu engagieren, andererseits muss man auch darauf achten, sich abgrenzen zu können, damit einem der einzelne Fall nicht zu nahegeht.
Wie schwer fällt das? Wer den Job über eine längere Zeit gemacht hat, weiss ungefähr, wie weit man sich persönlich engagieren darf und kann, ohne die eigenen Ressourcen überzustrapazieren. Es lauert die Gefahr, dass wir bei einem starken persönlichen Engagement eine Erwartungshaltung aufbauen, die bei der Vielzahl von Fällen langfristig dann manchmal doch nicht so richtig erfüllt werden kann.
Erleben Sie Unterschiede in der Behandlung und Betreuung von schwerbehinderten Kindern im Vergleich zu erwachsenen Menschen mit einer schweren Behinderung? Viel Erfahrung in der Behandlung von schwerbehinderten Erwachsenen habe ich nicht. Ich weiss, dass es bei altersbedingten Übergängen Schwierigkeiten geben kann: Also dann, wenn ein schwerbehinderter Jugendlicher von Facheinrichtungen für Erwachsene weiterbetreut werden soll. Da ist es manchmal schwierig, eine Anschlusslösung zu finden, bei der man sich mit dem gleichen Ganzheitsanspruch um die Betroffenen kümmert.
Ein Kinderspital ist umfassender? Wenn ein mehrfachbehindertes Kind oder ein Jugendlicher im Kinderspital betreut wird, dann bemühen wir uns, möglichst alle medizinischen und pflegerischen Massnahmen abzudecken, auch die soziale Unterstützung und bei Bedarf eine psychologische Betreuung. Ähnliche medizinische Einrichtungen für Erwachsene in dieser Art gibt es nicht. Dazu kommt: In der Erwachsenenmedizin geht man von der Autonomie des Patienten, der Patientin aus. Der Patient entscheidet selbst, was er an medizinischen Massnahmen für sich in Anspruch nehmen will oder nicht. Die Kinderärzte/-innen hingegen sagen: «Wir müssen dafür Sorge tragen, dass das Kind zu dem kommt, was wir denken, das es braucht.» Das ergibt eine viel direktivere Fallführung und eine ganz andere Fürsorgekultur.
Was gehört zur Professionalität im Umgang mit Kindern mit schwerster Behinderung? Welche Punkte sind wichtig? Von Vorteil ist eine pflegerische Ausbildung. Dazu braucht es eine spezifische Erfahrung im Umgang mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung. Es braucht auch ein Gespür und ein Empfindungsvermögen für die Bedürfnisse von Kindern, die sich nicht so bemerkbar machen können, wie wir das von gesunden Kindern kennen. Es braucht sehr viel Geduld und auch Demut.
Können Sie das noch ein wenig ausführen? Therapeuten/-innen müssen sich oft mit kleinen Fortschritten zufriedengeben, von denen wir wissen, dass sie erreichbar sind. Das können auch ganz kleine therapeutische Erfolge sein, egal, wie gross der Aufwand ist. Auch kleinste Fortschritte, die aufgrund von therapeutischen Interventionen erzielt werden, sind Fortschritte und wirken motivierend. In der Behandlung von Menschen mit einer schweren Behinderung muss man sich oftmals damit zufriedengeben, dass sich ein Zustand nicht verschlechtert.
Und Sie sind trotzdem immer bestrebt, das Bestmögliche zu tun? Ich überlege mir bei jedem Kind, wovon es noch profitieren könnte. Die Motivation bleibt. Es wäre unprofessionell, von einer Intervention zu viel Wohlergehen zu erwarten und dann enttäuscht zu sein, wenn es nicht klappt. Ebenso unprofessionell ist es, die Flinte ins Korn zu werfen, weil man denkt, dass eine Massnahme eh nichts bringt. Professionalität heisst auch, nicht nur das Kind zu sehen, sondern das gesamte Familiensystem. Was man therapeutisch vorschlägt, muss für die Familie machbar sein. Es wäre wenig sinnvoll, die Ressourcen so aufzubrauchen, dass zum Beispiel für die Geschwister nur noch wenig übrigbleibt. Nur schon der regelmässige Transport zu einer Therapie kann enorm aufwändig sein. Es gilt immer, sorgfältig abzuwägen, wie die Ressourcen in einer Familie verteilt sind.
Ein wichtiger Partner für das Kinderspital ist das Heilpädagogische Kinderhaus Weidmatt. Wie läuft diese Zusammenarbeit? Ich denke, wir haben ein sehr gutes Verhältnis. Pro Jahr dürfen wir ein bis vier Kinder in die Weidmatt zur Betreuung weitergeben. Einige Kinder, die in der Weidmatt betreut werden, sind so gravierend beeinträchtigt, dass die Betreuung eigentlich eine Art Spitalpflege darstellt. Bei anderen Kindern, die schwer beeinträchtigt sind, übernimmt die Weidmatt einen Teil der Betreuung, zum Beispiel an bestimmten Tagen. Man kann gar nicht hoch genug schätzen, was diese Entlastung für die Eltern bedeutet.
Wie erleben Sie das Heilpädagogische Kinderhaus Weidmatt und seine Mitarbeitenden? Die Weidmatt ist mit ihrem Angebot einzigartig in der ganzen Schweiz. Auch Kinderkliniken aus anderen Kantonen der Deutschschweiz kennen die Einrichtung und bemühen sich darum, dass kleine Patienten/-innen dort weiterbetreut werden können. Die Mitarbeitenden sind sehr engagiert, kompetent, zuverlässig und vorbildlich. Das mag etwas lobhudelnd klingen, aber es ist so. Ich kann diese Einrichtung vollumfänglich empfehlen.
Kommen Sie als professioneller Arzt und Spezialist auch mal an ihre Grenzen, weil Ihnen vieles zu nahe geht? Das kann jungen Ärzten am Anfang ihrer Tätigkeit passieren. Mit einem gewissen Erfahrungsschatz weiss man, wie wichtig es ist, eine Mindestdistanz zum Fall zu wahren. Natürlich übernimmt man für einen Teil des Leidens beim Kind und der Familie die Verantwortung. Gleichzeitig muss man sich klar machen, dass man nicht vollumfänglich für die gesamte Problematik verantwortlich sein kann. Wir sind immer bestrebt, andere Betreuungsangebote und Unterstützungsmöglichkeiten zu organisieren, die ein Teil von dem übernehmen können, was man selbst nicht abdecken kann. Zum Beispiel eine psychologische Betreuung der Angehörigen.
Was heisst «professionell» in schwierigen Situationen? Es kommt beispielsweise vor, dass Sie die Eltern informieren müssen, dass ihr Kind bald sterben wird. Wie machen Sie das? Da haben wir eine gewisse Erfahrung. Junge Assistenten bekommen eine spezifische Ausbildung in der Gesprächsführung und in der Vermittlung von schwierigen Botschaften. Die Älteren von uns haben ihre persönliche Erfahrung und ihre innere Leitlinie, wie man das macht. Man gewinnt auch eine gewisse Routine und weiss, in welchem Setting und in welcher Informationsabfolge die Eltern zu informieren sind. Man sorgt für eine angemessene Gesprächsatmosphäre und schaut, dass man genügend Zeit einplant und nicht gestört wird. Gut ist je nach Situation auch, wenn andere Betreuungspersonen beim Gespräch mit dabei sind.
Das sind sicher schwierige und emotionale Momente. Das ist so. Man muss während eines Gesprächs auch aushalten, dass die Eltern ganz stark enttäuscht, traurig oder verzweifelt sein können.Es kommt dann manchmal vor, dass man nichts sagen kann und einfach warten muss, bis man merkt, dass die Eltern wieder fähig sind, den nächsten Teil der Informationen entgegenzunehmen. Oder wir lassen die Eltern eine Zeitlang alleine, so dass sie sich ihrer Trauer hingeben können. Danach haben sie auch die Möglichkeit, Fragen zu stellen, was in einem Akutschmerz nicht möglich gewesen wäre.
Zur Professionalität gehören Abgrenzung, aber auch Empathie. Was ist das für eine Gratwanderung? Bleiben wir beim Beispiel, wo sie eine Hiobsbotschaft übermitteln müssen. Auf der einen Seite des Grates machen sie das zu nüchtern, zu sachlich, zu wenig trostspendend und zu wenig empathisch. Auf der anderen Seite des Grates fühlen sie mit den Eltern übermässig mit, so dass das Bemühen um die Leidensminderung bei den Eltern und das objektiv bestmögliche Vorgehen sich vermischen. Dann stehen Empathie und Mitgefühl mit den Eltern im Wege, um klar zu sehen, was jetzt in dieser Situation erforderlich wäre. Der Wunsch, den Eltern ein Leiden zu ersparen kann also dazu führen, dass man nicht mehr objektiv informiert oder handelt.
Wie stark beschäftigen Sie einzelne Fälle auch ausserhalb des Berufsalltags? Es gehört ein stückweit zu Professionalität, dass man schwierige Situationen hinter sich lassen kann, sobald die Berufsrolle abgestreift ist, also am Feierabend oder in den Ferien. Das gelingt phasenweise gut, phasenweise auch mal weniger gut. Es gibt immer wieder belastende Fälle, die einem auch ausserhalb des Berufsalltags beschäftigen. Ab einem bestimmten Verantwortungsgrad muss man damit rechnen, auch in der Freizeit mit fachlich-beruflichen Fragestellungen oder dem Schicksal eines Kindes konfrontiert zu werden.
Wie tanken Sie auf, wie erholen Sie sich? Ich pflege die persönlichen sozialen Kontakte, sei es in der Familie oder mit Freunden. Ich fahre gerne Velo und habe. eine Leidenschaft für Musik. Ich spiele Kontrabass, habe auch schon Workshops an der Jazzschule besucht und bin Mitglied einer Jazzband. Wir sind alles engagierte Amateure.
Gibt es Bereiche, in denen die Professionalität in der Begleitung von Kindern mit schwerer Behinderung noch verbessert werden kann? Es müsste eigentlich klar sein, dass die öffentliche Hand die notwendigen Mittel zur Verfügung stellt, um die Betreuungsangebote für die Eltern – zum Beispiel Weidmatt, Kinderspitex, Sonderschulen – besser zu sichern, Sparmassnahmen sollen nicht auf dem Rücken von schwer betroffenen Familien ausgetragen werden müssen. Ein weiteres Problem ist, dass sich viele Therapieanbieter oft kaum selber finanzieren können. Eine Kinderphysiotherapie ist wesentlich aufwändiger als eine Erwachsenenphysiotherapie. Die Praxen haben oft Mühe, sich zu halten, und müssen extrem dafür kämpfen, dass sie die notwendige Vergütung bekommen. Die finanzielle Abgeltung durch die IV und die Krankenkassen ist hier verbesserungsfähig.