Mehr Individualität statt Gruppenwohl
Der Einbezug von Menschen mit Behinderung in die Gestaltung ihres Lebensalltages ist für Rahel Huber die grösste Veränderung in den letzten 20 Jahren.
Die Sozialpädagogin hat bei der SSBL zehn Jahre lang den Fachbereich Begleiten und Betreuen geleitet.
In einem persönlichen Gespräch mit Rahel Huber haben wir spannende Fragen gestellt und viele interessante Antworten erhalten. Viel Spass beim Lesen.
Die SSBL fördert die mit Selbstbestimmung verbundenen Bedürfnisse auf mannigfache Art und Weise. Die vorgängig wichtigste Massnahme war und ist die (Weiter-) Entwicklung der Kommunikation (siehe Artikel im Magazin z’mitts drin Nr. 1, Seite 19). Wer selbstbestimmt leben und handeln möchte, muss befähigt sein, sich in irgendeiner Art auszudrücken. Das ist nicht für alle Menschen gleichermassen einfach. Manchmal muss zuerst herausgefunden werden, wie sich jemand ausdrücken kann und welche Mimik, Gestik oder Körperspannung Abneigung oder Vorliebe zum Ausdruck bringt. Oftmals kann man sich auf das vorhandene Wissen der Eltern und der begleitenden Institutionen stützen, aber eine neue Umgebung mit neuen Menschen bedeutet immer auch neue Situationen und neue Formen der Kommunikation.
Die SSBL versucht, bei möglichst allen Entscheidungen den Willen der Bewohnerin oder des Tagesbeschäftigten zu erfragen und diese Willensäusserung erfahrbar zu machen. Anlass dazu ist im Alltag mehrfach vorhanden: Bei der Kleiderwahl, der Essenswahl, wann jemand essen möchte, mit wem man am Tisch sitzen möchte und so weiter. Auch bei der Wahl der Kontaktperson, der Feriendestination, des Wochenend- oder Abendprogramms oder der Atelierteilnahme bieten sich viele Gelegenheiten, die Selbstbestimmung zu fördern, ebenso bei der Wahl der Hilfsmittel und Bildungskurse. Das kann ein besonderes Computerprogramm oder ein Kurs zum öffentlichen Verkehr sein.
Dennoch verwischen alle diese und weitere Möglichkeiten die Tatsache nicht, dass das Leben in einer Institution in einem höheren Masse einer gewissen Fremdbestimmung unterworfen ist, als dies in Privathaushalten der Fall ist.
Grundsätzlich darf festgehalten werden, dass einiges verändert wurde. In den Institutionen ist eine deutliche Hinwendung zum einzelnen Menschen und zu den individuellen Bedürfnissen vollzogen worden.
Es geht heute primär nicht mehr um das Wohl einer Gruppe Menschen, die zusammenwohnt, die die Freizeit und dann auch noch die Ferienzeit in «Lagern» gemeinsam verbringt. Heute geht es um Menschen, die zwar zusammenwohnen, aber individuelle Wünsche haben, die unter Umständen nicht mit denen der Mitbewohner/-innen korrespondieren. Es geht darum, individuelle Lebensplanungen zu berücksichtigen und Zielen und Wünschen nach zu gehen, deren Bedeutsamkeit durch den einzelnen Menschen gewichtet werden, und nicht durch das «Wohl der Gruppe».
Die Institutionen für erwachsene Menschen mit Behinderungen/Beeinträchtigungen mussten sich ab 2003 mit der Einführung der «Qualitativen Vorgaben des BSV» eingehender und reflektierter mit den Lebensbedingungen auseinandersetzen. Es wurden Konzepte und Prozessbeschreibungen verlangt. Neben dem Beschrieb der «Zielgruppe» kamen mancherorts plötzlich Themen wie «Zimmer- und Haustürschlüssel» auf das Tapet und man musste definieren, wieso manche Menschen mit Behinderung nicht darüber verfügten.
In der Schul- und Berufsbildung wurden in den letzten Jahren diverse inklusive Angebote entwickelt, die mehr Menschen den Zugang zueinander über gleiche Bildungsbiographien ermöglicht haben. Dies ist für die Entwicklung einer diversen, inklusiven Gesellschaft unabdingbar!
Schweizweit sind sicher auch andere Gesetzesvorgaben, wie das Behindertengleichstellungsgesetz BehiG, das «neue» Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (KESR) oder auch die UN-BRK als Grundlagen und Impulsgeber für viele, wichtige Fortschritte anzuführen.
Ich glaube, diese Frage darf man bejahen. Es hat vielerorts eine vertiefte Auseinandersetzung damit stattgefunden, welche Bereiche des Lebensalltags für Menschen mit Behinderung nicht im notwendigen Masse angeboten werden, welche vorhanden oder zugänglich sind. Für die grösste Veränderung halte ich, dass die betroffenen Personen in die Beantwortung dieser Fragen und überhaupt jener nach dem «guten Leben» einbezogen werden.
So werden sie bei der «Lösungssuche» mitbeteiligt und es sind nicht mehr ausschliesslich «Expertengruppen», die danach etwaige Massnahmen ableiten oder initiieren. Dieser Einbezug und die Umsetzung der daraus resultierenden Massnahmen wird das Leben für alle Menschen bereichern. Egal, ob man dieses mit oder ohne Behinderung bewältigt.
Der oben erwähnte Einbezug der von Behinderung betroffenen Menschen passiert noch nicht überall in genügendem Masse. Nicht überall traut man den Menschen mit Behinderung zu, das zu leisten, zu was sie durchaus fähig sind. Ihr Potenzial verschwindet noch zu oft unter dem Label «Behinderung», ohne dass mit derselben Sorgfalt und Achtsamkeit nach Partizipationsmöglichkeiten gesucht wird, die wir an anderen Orten und in anderen Zusammenhängen selbstverständlich erbringen.
In diesem Sinne ist die Frage nach dem «Wo» nicht abschliessend zu beantworten. Defizite für den einzelnen von einer Behinderung betroffenen Menschen können überall auftreten. Den Menschen mit Behinderung als definierte, mit Persönlichkeitsattributen versehene Existenzform gibt es nicht. Seine Bedürfnisse an die Umwelt und die Menschen darin sind so vielfältig wie die der Menschen ohne Behinderung.